Der kleine Bach
Von Andreas Winter, Dipl.-Pädagoge und Autor dieser wunderbaren Geschichte. Mehr von Andreas Winter: www.powerscout.net Zu lesen auch ab 2010 im Buch “Der Psychocoach - Zu viel Erziehung schadet!”
Ein romantisches Plädoyer für die lebenserhaltende Unordnung der Natur und gegen Anpassungsdenken. Eine pädagogische Geschichte zum Nachdenken, Weinen, Lachen und Hoffnung schöpfen. Sie werden nach der Lektüre des "Kleinen Bach" Ihre eigene Erziehung in einem völlig anderen Licht sehen - und in der Lage sein, zu entdecken, wo gut gemeinte, aber schlecht gemachte Erziehung noch in Ihren Knochen steckt und für Konflikte sorgt.
Hoch oben, im eisigen Gebirge, gibt es einen alten Gletscher. Ein Gletscher, das ist eine riesige Eismasse, die sich nur ganz langsam vorwärts schiebt. Man kann sich das vorstellen, wie einen vollständig gefrorenen Fluss. Dieser Gletscher bewegt sich Stück für Stück bergab und schiebt dabei grimmig alles zur Seite und vor sich her, was sich ihm in den Weg stellt. Geröllbrocken, Bäume, ja sogar Felsen halten der großen Kraft des Gletschers nicht stand. Und so bewegt sich das Eis unaufhaltsam immer weiter talwärts. Viele Bergwanderer und Forscher besuchen oft den Gletscher und bestaunen seine Unaufhaltsamkeit und beständige Kraft.
In einem ganz anderen Gebirge, dort, wo es freundlicher und nicht so kalt ist, entspringt inmitten der Felsen eine kraftvolle, sprudelnde Quelle. Diese Quelle füllt über einen breiten Wasserfall einen großen blauen See mit frischem, klarem Wasser. Hierhin kommen viele Menschen und trinken das gesunde frische Quellwasser und baden sogar in dem See. Besonders Menschen, die krank sind, kommen her zum Baden, denn das Wasser macht sie mit seiner wohltuenden Reinheit wieder völlig gesund, sagen sie.
Die Quelle und der See haben eine Tochter. Ein kleines quirliges Flüsschen, welches direkt aus dem See, quer durch ein paar Wiesen sprudelt und in seinem Lauf zu einer großen, schönen Mäander wird. Eine Mäander ist ein Fluss, der in elegant geschwungenen Kurven fließt. Viele bunte Schiffe, voll mit vergnügten Menschen fahren Sonntags auf ihr und erfreuen sich an ihrer Gleichmäßigkeit und an dem kurvigen, geschwungenen Ufer. Diese ruhige und anmutige Mäander fließt quer durch das ganze Land und mündet mit einem letzten großen Schlenker im weiten Meer, dort, wo eines Tages alles Wasser einmal hin fließt.
Auch der Gletscher hat einen Abkömmling. Dort, wo der Gletscher weit in das sonnenbeschienene Tal ragt, schmilzt das Eis und wird zu einem breiten, wilden Strom. Dieser Strom trägt soviel Wasser in seinem Verlauf, dass er, genau wie sein Vater, der Gletscher, alle Hindernisse in seinem Weg mitreißt, oder beiseite schiebt. Und genau wie die Mäander fließt der Strom ebenfalls quer durchs Land. Aber auf ihm fahren große eilige Frachtkähne, die mit ihrer Ladung schwer und tief im Wasser liegen. Dort, wo der Strom durch große Städte kommt, ist er besonders schnell und gerade, denn die Menschen haben das Ufer mit Spundbohlen befestigt. Dadurch bleibt das Wasser noch gerader in seinem Flussbett. Das Baden ist dort streng verboten, denn die Kraft des Stromes ist so groß, dass alles, was dort hineinfällt gnadenlos mitgerissen wird und bis zum Meer getrieben wird, dort, wo einmal alles Wasser mündet.
So fließen die beiden Gewässer, die schöne Mäander und der breite Strom, durch das ganze Land, von ihrem Ursprung in den Bergen, bis hin zum Meer. Doch gibt es eine Stelle, nahe einer kleinen idyllischen Stadt, an dem die beiden Wasser sich sehr nahe kommen. Dort, wo die Mäander wieder einmal eine ihrer schönen, geschwungenen Kurven hat, fließt dicht vorbei der breite, stolze Strom. Der Strom ist entzückt von der ruhigen Schönheit, die sich gleichmäßig durch das Land schlängelt. Und die Mäander ist beeindruckt von der Kraft und Geradlinigkeit, mit der der Strom sich fast pfeilgerade durch das Land bahnt. Sie verlieben sich ineinander.
Es wird Herbst und so kommt es, dass es ein paar Tage hintereinander regnet und regnet und regnet. Randvoll werden die beiden Flüsse durch das zusätzliche Regenwasser und treten mit einem schwungvollen Schwappen über die Ufer. Und zwar genau an der Stelle, wo sich eine der schönsten Kurven der Mäander befindet und ebenfalls genau dort, wo das Ufer des mächtigen Stromes nicht befestigt ist, sondern nur aus Kieselsteinen besteht. Hier bildet sich jeweils ein kleiner Rinnsaal, der durch die Kraft des übertretenden Wassers tiefer wird und zu einem gemeinsamen Bach zusammenläuft. Dieser Bach plätschert von nun an munter und vergnügt zwischen den beiden großen Wasserstraßen hin und her.
Nun ist es so, dass der kleine wilde Bach noch nicht besonders viel Wasser trägt und ständig den großen Steinen in der Landschaft ausweichen muss. Wo immer ein schwererer Brocken liegt, platscht das Wasser einfach dagegen und muss drum herum fließen. Es ist einfach noch zu schwach, um, genau wie der große Vater Strom, die Felsen zu überspülen, oder gar mitzureißen. Und der will ja nur das Beste für seinen Sohnemann und ermahnt ihn ungeduldig, er solle sich nicht ständig ablenken lassen. Er sagt: „Du willst doch auch einmal im Meer ankommen. Also dann lass dich nicht von so ein paar Steinsbrocken aufhalten. Stemm dich ordentlich dagegen, und räume sie weg. Das ist doch ganz leicht.“
Doch der kleine Bach schafft es einfach nicht. Schon das kleinste Hindernis reicht aus, um sein Wasser umzuleiten. Das wissen sogar die Kinder und die ganz frechen schleppen hin und wieder alte Autoreifen herbei, nur damit der Bach sich einen anderen Weg bahnen muss. Wie gemein! Eigentlich sieht er gar nicht recht ein, warum er sich überhaupt die Mühe machen soll, um zum Meer zu kommen. Hier ist es doch auch sehr schön. Viel lieber spielt er mit den Fischen und hört den Fröschen bei ihrem lustigen Gequake zu, als sich um die blöden Steine zu scheren. Sollen die doch bleiben, wo sie sind. Er versteht sowieso nicht recht, warum er sich nicht, genau wie seine wie Mama, einfach schlängeln darf.
Als dann eines Tages einmal ein kleiner junger Weidenbusch zu nah am Ufer steht, gelingt es dem Bach mit aller Kraft, diesen zu entwurzeln und mitzureißen. Und obwohl die arme Weide ihm etwas leid tut, zeigt er seinem Vater stolz die hilflos treibenden Zweige und hofft dabei, endlich einmal ein bisschen Lob zu bekommen. Doch der Vater deutet ungeduldig auf einen großen morschen Eichenstumpf an seinem Rand, der es wagt, Widerstand zu leisten. Und - ruck - da reißen die Fluten das Gehölz heraus und spülen es gnadenlos weiter. „Hast Du gesehen? So macht man das. Wenn Du das nicht auch bald kannst, wirst Du nie ein richtiger Fluss und die Menschen bauen eine Betonröhre um Dich herum und fangen Dich damit ein. Dann bist Du ein Abwasserkanal und landest in einer Kläranlage und nicht im Meer“.
Enttäuscht weint der kleine Bach dicke, nasse Tränen, so dass auch alle Fische in ihm traurig werden und weinen. Doch die Mutter Mäander tröstet ihr kleines Wildwasser und schickt ihm ein paar kräftige Schlucke reinsten Quellwassers, direkt von Oma Quelle in den Bergen. Das macht ihn quirlig und er bekommt wieder etwas bessere Laune.
So vergeht das Jahr und der Winter kommt und bringt Schnee und Kälte ins Land. Und während auf der Mäander die Menschen Schlittschuh laufen, heißen Tee verkaufen und Spaß haben, fahren auf dem großen Strom die Eisbrecher auf und ab und sorgen dafür, dass er in Bewegung bleibt, denn die Schifffahrt muss ja weitergehen. Unaufhaltsam fließt der große Strom, egal was da kommt. Der kleine Bach aber friert einfach nur bitterlich und kann sich vor lauter Eis kaum bewegen. Und weil er so klein ist, interessieren sich noch nicht einmal die Kinder für ihn. Er ist einfach zu klein und zu schwach. Und immer öfter sagt er sich: „Ich werde niemals ein Fluss. Niemals schaffe ich das. Ich werde in einer Betonröhre gefangen und habe keine Fische mehr und sehe nicht mehr meine Eltern und lande in einer Kläranlage.“
Monatelang ist der kleine Bach völlig niedergeschlagen. Doch dann kommt der Frühling mit seinen lachenden Sonnenstrahlen. Das Eis schmilzt und mit dem Frühling kommen die Singvögel aus dem Süden zurück und alles Leben ringsherum erblüht. Die Fische, die in dem kleinen Bach den ganzen Winter über ihre gemütliche Ruhe hatten, fangen an zu springen und die Schilfpflanzen recken ihre Hälse zum Himmel und beginnen zu blühen. Und auch Menschen kommen zu dem kleinen Bach, der immer noch zwischen den großen Steinen hin und her geschubst wird. Die Menschen haben Bagger und Schaufeln dabei und beginnen, früh am Morgen um das Ufer herum zu graben und zu buddeln. Das erschreckt den kleinen Bach fürchterlich. Denn mit einem mal kommt ihm die schreckliche Erkenntnis: „Jetzt bauen sie die Röhre, von dem Papa immer erzählt hat. Jetzt fangen sie mich ein. Ich werde nie wieder Mama und Papa sehen und meine Frösche und meine Pflanzen!“ Und der kleine Bach heult so jämmerlich, dass sogar die Vögel am Himmel Mitleid haben und sich in einer langen Reihe ans Ufer setzen.
Es dauert sehr, sehr lange, bis dass der kleine Bach sich etwas beruhigt und sich traut, einmal aufzublicken. Es ist bereits Sommer und es scheint, als ob in diesem Jahr besonders viele Fische, Vögel, Pflanzen und sogar die geliebten Frösche, die immer so lustig quaken, da sind. Der kleine Bach blickt verschüchtert um sich und erwartet eigentlich, dass er nun in einer stockdusteren, dreckigen Abwasserröhre gefangen ist. Doch nichts von alledem ist zu sehen. Nur in ganz weiter Ferne steht jetzt ein kleiner, sauberer grüner Zaun. Ein paar Vögel sitzen darauf und zwitschern sich Neuigkeiten zu.
Der kleine Bach wundert sich sehr. Und da entdeckt er noch etwas: In großen Abständen entlang des Zaunes sind einige Schilder aufgestellt. Auf denen ist ein buntes Wappen und schwarze Buchstaben. Darauf zu lesen ist: „Wasserschutzgebiet – Betreten streng verboten. Hier leben vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten“.
Der kleine Bach kann es zunächst gar nicht richtig fassen. Die Gedanken schießen alle gleichzeitig durch ihn hindurch: Er ist von den Menschen zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Genau so, wie er immer gewesen ist, ist er für sie etwas Besonderes. Er muss sich gar nicht zum Meer durcharbeiten, sondern er darf einfach ein kleiner Bach bleiben. Die Fische und Vögel und Pflanzen und Frösche, die er so gern hat, das quirlige sprudelnde klare Wasser, all das lieben auch die Menschen an ihm. So sehr, dass sie ihren kleinen, unbeholfenen Bachlauf genau so für immer behalten wollen.
Und wieder weint der kleine Bach. Aber diesmal vor Freude. Und die Fische springen dazu in hohen Bögen aus dem Wasser und machen Bauchklatscher und die Frösche quaken wie immer aufgeregt durcheinander.
Ein Nachwort vom kleinen Bach:
Seit dem ich ein Wasserschutzgebiet bin ist etwas Lustiges geschehen. Die Menschen in den bunten Ausflugdampfern, die Mama bringt, kommen oft rüber zu mir an den Zaun und staunen und machen viele Fotos. Und Papa hat sogar eine Spundbohlenwand für sein Ufer bekommen, damit er bei Hochwasser nicht meine Wiesen verdreckt. Und neulich waren wieder ganz viele Kinder da. Aber diesmal haben sie keine Autoreifen mitgebracht, sondern die alten sogar eingesammelt und mitgenommen.