Fehldeutungen der Esoterik
Die Esoterikszene ist Teil unserer Gesellschaft und rekrutiert ihre Anhänger zum großen Teil aus Menschen, die sich vom Leben, von der eigenen Familie, von den christlichen Kirchen, von einer gefühlslosen High-Tech-Medizin und vielem mehr enttäuscht oder getäuscht fühlen. Sie kommen aus einer weltlichen Gesellschaft, die sie als sinnlos und zerstörerisch empfinden sowie als ungeeignet, menschliche Werte aufrechtzuerhalten und zu schützen.
Bei aller Vielfalt teilt die Szene ein paar grundsätzliche Annahmen über die Welt, die ich nachfolgend mit meiner Erfahrung als systemischer Trainer als Fehldeutungen darstellen möchte.
Das Ego ist schlecht
Für den Esoterikanhänger ist das Ego der Hort des Bösen, gierig und rücksichtslos, selbstgefällig und nur den eigenen Vorteil suchend, dass auf jeden Fall überwunden werden muss. Kern der Vorstellung ist die These, dass es das Selbst gar nicht gibt (Buddhistische Lehre). Das ist unter allen Illusionen die größte Illusion. Wer das Ego vernichten will, hat ein Problem: Erkämpft gegen sein eigenes Ich.
Jedem therapeutischen Arbeitenden ist heute klar, wie wichtig das Ich für unser psychisches und physisches Wohlergehen ist. Das Ego ist das Organisationsprinzip des Individuums innerhalb eines Familiensystems, ohne das ein soziales, beziehungsreiches Leben unmöglich ist. Unser Bewusstsein, Ausdruck unseres Ichs, ist nicht nur erfolgsentscheidend, es ist existenzentscheidend.
Jemanden zu bewerten ist schlecht
Vorurteile verzerren unser Bild von der Wirklichkeit, was die Lebensqualität der Wertenden und der Bewerteten mindert. Pauschallösung: Weg mit allen Bewertungen.! Erst wenn wir das Leben so hinnehmen, wie es ist, können wir glücklich sein.
Doch wer nicht mehr bewertet, ist nicht etwa ein besonders spiritueller Mensch, sondern apathisch - Leiden als Grundmotiv. Ein soziales Wrack, das von anderen versorgt werden muss.
Der Geist ist mächtiger als die Materie
Viele übersehen bei der Aussage „der Geist beherrscht die Materie“, dass die Materie selbst nur eine Theorie ist, mit deren Hilfe wir in unserem Bewusstsein versuchen, die Welt zu erklären. Bereits im subatomaren Bereich finden wir keine Materie mehr!
Auch wenn wir mit dem Materiellen eher das Finanzielle und Kommerzielle meinen oder mehr die physische Nahrung gegenüber der geistigen Nahrung. Der Mythos trägt nicht weit, weil schon zu viele große Geister verhungert sind, in Armut verkümmert oder von Dummköpfen inhaftiert und hingerichtet worden sind.
Geist ist nicht mächtiger als Materie und umgekehrt, beide sind gleich wichtig.
Loslassen ist besser als Festhalten
Unermüdlich wird in der Esoterik das Loslassen empfohlen. Irgendetwas klappt nicht in der Beziehung, im Beruf und mit den Kindern, dann ist das gleich eine gute Gelegenheit, sich im Loslassen zu üben. Das Loslassen als Heilsbringer und das Festhalten als allgegenwärtiges Übel. Warum soll es gut sein, mein Jungen Loszulassen, nach dem Motto „er muss jetzt selbst sehen wie er klar kommt“, wenn er durch seine ADS-Krankheit im übertragenden Sinne an einen Baum gefesselt ist. Niemand kommt allein frei, wenn er durch Lebensumstände gefesselt ist. Es geht überhaupt nicht um Loslassen oder Festhalten, sondern um die Übernahme von Verantwortung.
Positiv denken
Die Idee des positiven Denkens ist uralt und reicht vom jüdischen Talmund „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu deinem Schicksal“ bis zu den selbsternannten, neuzeitlichen Missionaren, wie sie im Buch „The Secret“ aufgereiht sind, von denen die Psycho- und Esoterikszene nur so überquillt.
Psychologisch gesehen ist das übertriebene positive Denken vor allem eine Verdrängung unserer Schatten, ein perfekter Selbstbetrug und damit ein Trugschluss über uns selbst.
Wie der Versager, der sich laufend positiv mit Hilfe suggestiver Hörkassetten auf Erfolg trimmt und nicht dabei bemerkt, dass er fortan der erfolgreichste Versager geworden ist.
Erst wenn wir uns unserem Schatten stellen und erkennen was uns versagt blieb, kommen wir in die Lage, ein positives Leben zu führen.